Hat
die Germanistik Goethes Faust völlig falsch verstanden? von
Reinhard
Jellen 12/2024
Faust als
ideologische Leitfigur: Literaturwissenschaftler Thomas Metscher beleuchtet
die Ambivalenzen des Klassikers. Wer lesen will, soll denken.
Goethes
Protagonist seines großen Dramas Faust hat in seiner Beurteilung
eine bemerkenswerte Zäsur erfahren: Wurden bis ins 20. Jahrhundert
bei dieser die negativen Aspekte der Figur nicht angemessen berücksichtigt,
so werden in der Gegenwart die positiven Züge unterschlagen.
Denn sowohl
bei der einstmalig positiven als auch der gegenwärtigen negativen
Beurteilung des Faust wurde bislang die ihm innewohnende, radikale Widerspruchsstruktur
nicht angemessen berücksichtigt: die des Fortschritts in der bürgerlichen
Gesellschaft in seiner ausgeprägten Ambivalenz.
Die Widerspruchsfiguration
führt Thomas Metscher seinem Buch aus und legt sich damit mit der
gesamten Germanistik-Zunft an.
Herr Metscher,
Sie behaupten in Ihrem Buch, die Faust-Forschung sei "bürgerliches
Herrschaftswissen par excellence", an dem "ideologische Konturen"
ablesbar wären. Können Sie das erläutern?
Thomas
Metscher: Für den größten Teil des 19. Jahrhunderts
blieb Goethes Faust als gesamte Dichtung unverstanden und wurde zum
klassischen Eisen gelegt, galt als wirr, unverständlich und verrostet,
ungeeignet für eine Aufführung im Theater.
Die
Lage änderte sich dann aber drastisch mit dem Aufstieg Deutschlands
zur, dem deutschen Selbstverständnis nach, führenden europäischen
Nation, zur imperialen Weltmacht mit dem Anspruch auf Kolonien in anderen
Teilen der Welt – mit der Entwicklung also des Kapitalismus in
seine imperialistische Phase, Deutschlands zur ersten militaristischen
Macht, die erst in der Hölle des Weltkriegs zu einem kurzen Abschluss
kam.
In
diesen Zeitraum fällt die Entdeckung Fausts als deutscher Held,
Goethes Dichtung als zweite, schließlich die erste Bibel der deutschen
Nation, ja in der Verbindung Goethes mit Nietzsche wird Faust zum Übermenschen
verklärt, der die rassisch intakte, zum Herrschen erkorene Menschheit
in den Endsieg führt.
Seine
Verbrechen und negativen Züge werden, wenn nicht abgestritten,
so doch als notwendig erklärt, als Schritte seiner Verklärung;
so Gretchen, die sich opfern muss für den hohen Mann. "Das
Faustische" wird geboren als rassistische Ideologie, die das Faust-Bild
Hitler-Deutschlands bestimmt wie auch den "westlichen" Teil
Deutschlands und Berlins über den verlorenen Krieg hinaus. Faust
wird zum bürgerlichen Herrschaftswissen.
Ich
erinnere mich lebhaft an meine mündliche Prüfung im Fach Deutsch
im Abitur auf der Diesterweg-Oberschule zu West-Berlin Anfang der Fünfzigerjahre
des vorigen Jahrhunderts. Als ich, durch meinen antifaschistischen Vater
gegen den Faust-Virus gefeit (seine literarischen Götter waren
Heinrich Mann, Leonhard Frank, Tucholsky und Brecht), von der mich prüfenden
Dame, einer Oberschulrätin namens Dr. Panzer, nach Faust befragt,
mich despektierlich über diesen äußerte und ein anderes
Thema erbat, wurde ich zum hoffnungslosen Fall erklärt und entrüstet
des Raumes verwiesen.
Dies
kostete mich eine gute Note für Deutsch im Abiturzeugnis, doch
erhielt ich dafür das Lob eines jungen Lehrers, des Einzigen im
Kollegium der gesamten Schule, der sich als links verstand.
Ich
erwähne dies nicht zuletzt deshalb, weil die kritische Erarbeitung
der Geschichte des eigenen Fachs, gerade auch für die Klassik und
den Faust, zu den blamablen Leerstellen deutscher Germanistik, speziell
der sogenannten Goethe-Forschung gehört.
Hans
Schwertes verdienstvolles Buch Faust und das Faustische. Ein Kapitel
deutscher Ideologie von 1962 blieb für Jahrzehnte das einzige Werk
im Westen Deutschlands, das sich überhaupt mit diesem Problem befasste.
Erst 1982 folgt die erste Auflage der kritischen Auseinandersetzung
mit der Faust-Forschung durch Rüdiger Scholz.
Die
Arbeiten in der DDR übrigens, die seit Gerhard Scholz’ Faust-Gesprächen
von 1967 sich durchaus auch mit dem Problem der Ideologisierung von
Goethes Dichtung befassten und im Werk Wolfgang Heises zur deutschen
Klassik ihren Höhepunkt fanden, sind von der westdeutschen Forschung,
von isolierten Ausnahmen abgesehen, nie auch nur zur Kenntnis genommen
worden; oft werden sie nicht einmal in Bibliografien genannt.
Dabei
sind auch marxistische Arbeiten zu Goethe von einer einseitig positiven
Wertung Fausts, ja seiner Stilisierung zur "Leitfigur der Grenzüberschreitung"
(Ernst Bloch), keineswegs frei.
"Grenzüberschreiter
im negativen Sinn"
Es kommt
dann aber zu einem bemerkenswerten Wechsel innerhalb der Faust-Deutung
…
Thomas
Metscher: Ja und dieser Wechsel geht in seiner Drastik weit über
das gewohnte Maß in der Beurteilung literarischer Figuren hinaus.
Er betrifft nicht Goethes Dichtung als ganze, doch ihre zentrale Figur.
Aus
dem "positiven" Faust jeder Variante wird eine Negativfigur.
Der Übermensch wird zum Verbrecher, zum Kapitalisten und global
player, der mit seinen Handlungen Mensch und Welt aufs Spiel setzt –
wenn Grenzüberschreiter, dann im negativen Sinn; der das, was Goethe
selbst die "Grenzen der Menschheit" nennt, überschreitet
und "auf der Schindwasen" endet, wie es im Faustbuch heißt.
Der
philologisch beschlagenste und philosophisch belesenste Vertreter der
neuen Schule der Faust-Forschung, Michael Jaeger, spricht vom Wechsel
vom "perfektabilistischen" zum "imperfektabilistischen"
Faust; ein Gedanke, den er in einer Reihe beeindruckender Bücher
vertreten hat, die, unabhängig von ihren Prämissen, zum Besten
gehören, das die Forschung z. Zt. zu bieten hat.
Dabei
ist dieser Wechsel durchaus ernst zu nehmen, da in ihm ein Faust mit
den (hier benannten) negativen Zügen ans Licht tritt, welche die
positive Deutung verkleinert oder ignoriert.
Jaegers
Faust ist dennoch einseitig, weil er den, in meiner Sicht, dialektischen
Charakter von Goethes Dichtung, die konstitutive Rolle des Widerspruchs,
nicht in den Blick nimmt. Und der Widerspruch betrifft die ganze Dichtung
wie die Faust-Figur. Zudem minimiert die negative Deutung in der Regel
auch den positiven Sinn des Textganzen.
"Ideologischer
Apparat der Postmoderne"
Wie ist
es zu diesem extremen Rezeptionswechsel gekommen?
Thomas
Metscher: Hier wäre vieles zu sagen – hier nur dieses. Vergleichbare
Entwicklungen sind heute in vielen Bereichen der Geistes- oder Humanwissenschaften
international zu beobachten. Im Bereich der English Studies, mit denen
ich fachlich befasst bin, beobachte ich diese Entwicklung seit Jahren
hautnah.
Shakespeare
ist hier das große Beispiel; ich denke an den Wechsel des Englandbilds
der Historien, die Neudeutung von Tragödien wie Hamlet, Lear, Othello,
Macbeth. Hier gibt es viele Beispiele für einen Paradigmenwechsel
in der Grundorientierung. An die Stelle positiver, im Prinzip optimistischer,
historisch-humanistischer und rationalistischer Kriterien und Wertvorstellungen
treten irrationalistische, antihistorischer Theorien und Konzepte.
Das
Wortkonglomerat historicist/humanist ist geradezu zum Sigel des Falschen
geworden. Dahinter stehen als ideologischer Apparat Ideologien der sog.
Postmoderne, die sich aggressiv gegen jede Form kritisch-historischer
Arbeit im Bereich der Humanwissenschaften richten.
Leittheoretiker
sind Foucault, Derrida, Althusser und dessen Theorie eines theoretischen
Anti-Humanismus. Selbst der marxistische Existentialismus eines Sartre
hat als Leittheorie der Humanwissenschaften ausgespielt.
Ein
solches ideologisches Klima hat internationale Dimensionen und schlägt
dann auch auf traditionelle Leitfiguren wie Faust zurück. Nun könnte
ein solcher Rückschlag ja im positiven Sinn "reinigend"
erfolgen (so etwa, dass die Exzesse der positiven Faust-Rezeption zurückgenommen
werden, was im bestimmten Sinn sicher auch der Fall ist), er schlägt
aber auf die gesamte Rezeption zurück und lässt produktive
Orientierungen gar nicht mehr zu oder endet (wie die berühmte Edition
Fausts von Albrecht Schöne) in einem seichten Positivismus.
Herr Metscher,
was wurde bei der Entschlüsselung des Faust bislang übersehen?
Thomas
Metscher: Den überkommenen Lesarten des Faust – der positiv-perfektabilistischen
wie ihrem Gegenteil, der negativ-imperfektabilistischen – setze
ich die These entgegen, dass Goethes Dichtung wie kein zweites Werk
der Theaterliteratur Darstellung von Widersprüchen ist; äußerster
Widersprüche, die im geschichtlichen Prozess selbst ihren Grund
haben und in den Protagonisten des Werks, im Faust vor allen anderen,
Verkörperung finden; die These, dass Goethes Text mithin ein dialektisches
Theater ist, in dem die Widerspruchsstruktur des zivilisatorischen Prozesses
– die Dialektik der Kultur – seinen Niederschlag findet.
Faust
verkörpert zerreißende Widersprüche. Er verkörpert
die Janusköpfigkeit des Zivilisationstypus, für den er als
Symbolfigur einsteht: die europäische Zivilisation und in einem
zweiten Schritt die kapitalistisch formierte Weltzivilisation –
die Doppeldeutigkeit damit auch eines zivilisatorischen Fortschritts,
der (um Marx' zu zitieren) "jenem scheußlichen heidnischen
Götzen gleicht, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener
trinken wollte".
So
steht der Negativität seines Handelns – seine schuldhafte
Verstrickung in der Gretchen-Tragödie wie in der Vernichtung von
Philemon und Baucis, dem harten Factum, dass sein "Streben"
über Menschenopfer führt, sein Imperium auf einer Logik der
Unterwerfung beruht – die Wahrheit grundlegender Einsichten, die
Gültigkeit seiner Intentionen an entscheidenden Stellen des Texts
entgegen: vom Osterspaziergang über Wald und Höhle, anmutige
Gegend, Hochgebirg bis zur Begegnung mit der Sorge und der utopischen
Vision seines Todesmonologs.
Ihr
entgegen steht die kulturbildende Tat des Helena-Akts: die Schöpfung
der neuzeitlichen ästhetischen Kultur als ein aus der Aneignung
der Antike erfolgendes Werk.
Ihr
entgegen steht die klassische Walpurgisnacht in der Erkundung der Opposition
von geschichtlicher Welt und Naturwelt, zugleich aber auch der Grundlagen
und Formen produktiver kultureller Bildung, und es ist Faust, der diese
Erkundung vollzieht und den Weg zu Helena findet.
Dem
negativen Faust entgegen steht der "andere" Faust als sein
Widerpart, als Alternative und Auftrag – steht das "Könnt'
ich Magie von meinem Pfad entfernen"; steht die in Faust verkörperte
Idee der Produktivität, auch wenn Produktivität, unter den
Bedingungen der Klassengesellschaft, wie Wolfgang Heise argumentiert
hat, mit Machtausübung und Unterwerfung verbunden ist.
Nicht
Fausts "Tätigkeit" ist seine Schuld; dies ginge gegen
Goethes tiefste Überzeugungen. Das Falsche seines Tuns liegt in
einem wesentlichen Sinn in der historischen Bedingung und sozialen Form
seines Handelns.
Das
Falsche liegt im unterwerfenden Charakter seines Handelns: darin, dass
in der Klassengesellschaft die Aneignung von Welt, als kulturbildende
Tat, noch in erotische Beziehungen hinein, untrennbar mit gewalttätiger
Besitzergreifung verbunden, oft mit Blut und Tränen erkauft ist
– die Schädel Erschlagener der Preis des Fortschritts sind.
Sehr
genau verkörpert Faust das bürgerliche Subjekt in allen Formen
und Facetten, damit den Protagonisten der neuzeitlichen Weltzivilisation.
Faust ist Bourgeois und Citoyen zugleich, Subjekt der Herrschaft und
der Befreiung, der Unterwerfung und der Emanzipation.
Das
Falsche an Fausts Herrschaft besteht darin, dass sie, in der symbolischen
Sprache des Texts, auf "Magie" beruht, den Charakter von Unterwerfung
besitzt. Herrschaft mithilfe von Magie heißt in Goethes Text:
mithilfe von Mephistopheles.
Das
"Freie", das Faust in der Szene Mitternacht sich wünscht
und in seiner Todesvision entwirft, ist eine Welt ohne "Zaubersprüche"
und "Magie": eine Welt ohne Mephistopheles, die allein auf
"des Menschen Kraft" beruht, die sich, dem Vorspiel auf dem
Theater zufolge, "im Dichter offenbart". "Stünd'
ich, Natur, vor dir ein Mann allein", heißt es jetzt, "Da
wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein".
Kraft
der hier gewonnenen Einsicht in das Falsche tritt ins Bewusstsein die
Erkenntnis, und dies ist Teil der hier entworfenen Dialektik, dass Kultur
nur eine solche sein kann, die der Logik der Unterwerfung entsagt; eine
solche, die sich mit den erkannten Gesetzen der objektiven Welt in Einklang
zu setzen, ihre zerstörerische Kraft zu beherrschen vermag –
im Bewusstsein, dass allein in solcher Herrschaft die wahre menschliche
Freiheit besteht.
Was
Goethe an den Widersprüchen der Titelfigur ausarbeitet, ist nicht
weniger als das, was Dialektik der Kultur – Dialektik des zivilisatorischen
Fortschritts – genannt werden kann. Erst dieser Widerspruch, keine
plane Negativität oder Positivität, qualifiziert den Protagonisten
von Goethes Werk zur Symbolfigur des zivilisatorischen Subjekts der
Geschichte.
"Ich
lese den Faust in Analogie zu Hegels Hauptwerken"
Was ist
für Sie das Besondere am "Faust"?
Thomas
Metscher: Faust besitzt eine Komplexität formaler Gestaltung und
des durch diese vermittelten Gehalts jedes andere uns bekannte Werk
der Weltliteratur übertrifft. Wenn von Hegels Philosophie –
Phänomenologie und Logik vor allen anderen Werken – gesagt
werden kann, dass in ihr die Totalität des Seins, bezogen auf den
Menschen in der Form des Begriffs gefasst ist, so von Goethes Faust,
dass dies in ihm in ästhetischer Form geschieht, und ästhetisch
heißt: mit den Mitteln der Kunst. Zudem ist diese Form offen dialektisch,
nicht systematisch wie die Form der Philosophie.
Beide
Formen sind dialektisch, doch ist die Form der Kunst dialektisch in
anderer Gestalt als die Form des Begriffs. In diesem Sinn lese ich den
Faust in Analogie zu Hegels
Hauptwerken – oder habe zumindest begonnen, ihn so zu lesen.
Ausdrücklich spreche ich von "Studien" und einem "Versuch".
Auch sage ich nicht, dass Goethe Hegelianer gewesen sei, was Unfug wäre
– ich spreche von Analogie, nicht mehr.
Um
in Goethes Dichtung von Totalität sprechen zu können, müssen
freilich die zwei Teile des Faust samt der ihnen vorangestellten Prologe
als Zusammenhang verstanden werden – was fraglos auch Goethes Absicht
war.
Der
erste Teil hat seine Wurzeln im Sturm und Drang. Goethe entwickelt aus
ihnen eine der großen Tragödien der überlieferten Literatur.
Sie besitzt zwei Dimensionen: erstens die Tragödie Fausts, des
Gelehrten und Philosophen am Schnittpunkt von scholastischer Lehre und
kritischer, empirisch orientierter Wissenschaft, der am Scheinwissen
der Überlieferung verzweifelt und sich dem Teufel ergibt.
Zweitens
die Tragödie eines Mädchens, das, von dem verjüngten
Faust verführt und von der Bürgerwelt, in der sie lebt, verstoßen,
ihr mit Faust gezeugtes Kind ertränkt und am Ende des Stücks
als Kindesmörderin verurteilt im Kerker ihren Tod erwartet.
Faust,
im Bund mit Mephistopheles, bietet ihr die Flucht als Rettung an, doch
ist dieses Mädchen zu einer Flucht mit der Hilfe des Teufels nicht
bereit. Auf dessen "Ist gerichtet", dem Urteil Mephistos und
der Bürgerwelt, antwortet mit "Ist gerettet" eine "Stimme
von oben" – der einzige Verweis im ersten Teil auf das erlösende
Ende im zweiten Teil der Dichtung.
Die
Schwierigkeit des Verstehens gilt dem zweiten Teil wie dem Zusammenhang
des Ganzen. Der zweite Teil erst konstituiert, im Zusammenhang mit dem
Ersten und den Prologen, die Totalität des ästhetischen Gedankens,
damit die interne Dialektik von Goethes Dichtung.
Er
setzt ein mit der anmutigen Gegend, die von Shakespeares Ariel und dem
Preis des "heiligen Lichts" eröffnet wird und mit den
Bergschluchten des letzten Akts epilogisch schließt. Dem Ganzen
vorangestellt sind Zueignung, Vorspiel auf dem Theater und Prolog im
Himmel.
Sie
eröffnen die Dimensionen, in denen die Dichtung steht: die persönlich-auktoriale,
die theatergeschichtlich-soziologische und die metaphysisch-theologische.
In ihnen verhandelt wird das Schicksal des Menschen als Gattung und
als Individualität: Schicksal und Geschick des Menschen und seiner
Welt.
Es
ist dies die Grundfrage, die Goethes Dichtung mit der Grundfrage der
Philosophie, warum Seiendes sei und nicht vielmehr nichts, verbindet.
Verhandelt wird sie in fünf Akten, in deren Welten sie dem offenen
Ende der Bergschluchten zugeführt wird.
In
dieser Sicht erst wächst der Dichtung eine Dimension zu, die die
Grenzen der Kultur überschreitet: wird das Drama Europas zum Drama
der Menschengattung.
"Jede
Interpretation ist an bestimmte Prämissen gebunden"
Nun stammen
Sie selbst als Literaturwissenschaftler aus einem bestimmten, nämlich
dem marxistischen Lager. Wie können Sie meinen, mit Ihrer Deutung
dem Ideologischen zu entgehen?
Thomas
Metscher: Zuerst ist zu sagen, dass ich nie behauptet habe, dass marxistische
Interpretationen, die meine eingeschlossen, per se ideologiefrei sind.
Ich sage: Sie können es sein, sie sind es oft nicht. In aller Kürze
sei hier gesagt: Der Ideologiebegriff ist wie viele Grundbegriffe marxistischer
Theorie mehrgliedrig.
1.
Ideologie ist zunächst falsches (unwahres) Bewusstsein mit politischer
und sozialer Wirkung. Ich spreche hier von Ideologie 1. Rassistische
Theorien (so der Antisemitismus, aber auch jeder andere Rassismus) sind
ideologisch. Sie sind es nicht nur, weil sie falsch sind, sondern weil
sie zugleich politische Macht und soziale Wirkung besitzen, besessen
haben und besitzen können.
Ein
aktuelles Beispiel. Ist der Antisemitismus ideologisch, so ist es nicht
die Kritik an der gegenwärtigen israelischen Politik. Diese Kritik
ist politisch, juristisch und ethisch begründet. Aus ihr sind praktische
Konsequenzen zu ziehen. Ich spreche von politischen, juristischen, ethischen
Feldern. In diesen Feldern ist die Kritik an Handlungen und Haltungen
durchzuführen, insbesondere die Kritik an ihrer ideologischen Form.
2.
Über Wahrheit und Falschheit von Theorien ist wissenschaftlich
zu entscheiden. Wissenschaft ist notwendig eine Form kritischen Bewusstseins.
Ihre Kriterien müssen praktisch-empirisch und zugleich theoretisch
begründet sein. Wissenschaftliche Kritik aber beschränkt sich
nicht auf das Aufdecken von Fehlern, sie schließt die Reflexion
der Voraussetzungen, Leistungen und Grenzen wissenschaftlichen Wissens
ein.
Dazu
gehört die Erkenntnis, dass es neben dem wissenschaftlichen Wissen
andere Wissensarten, so das Wissen des Alltags und das Wissen der Künste
gibt. Zu sprechen ist von wissenschaftlicher, alltagspraktischer und
ästhetischer Episteme (im Sinne von Wissen). Ohne solche Reflexion
fällt Wissenschaft in Ideologie zurück.
3.
Der sachliche Gegensatz wissenschaftlichen Wissens ist nicht Ideologie,
sondern der Irrtum. "Auch Homer kann irren", sagte mein humanistisch
gebildeter Lateinlehrer einst, und so kann jede Wissenschaft, selbstredend
auch der Marxismus.
Der
Irrtum wird erst dann ideologisch, wenn er kaschiert wird und als Wahrheit
drapiert unter die Leute kommt. Er kann, wenn als Irrtum erkannt, kraft
der Wissenschaft, also kritisch-empirisch aufgelöst werden. Es
ist möglich, dass er nicht aufgelöst werden kann. In diesem
Fall ist er als ungelöstes Problem kenntlich zu machen.
4.
Es gibt aber auch eine komplexere Form von Ideologie (Ideologie2), die
mehr ist als nur falsches Bewusstsein. Es ist Ideologie als dialektischer
Begriff. Solche Ideologie meint eine Verkehrung des Bewusstseins, so
dass auch mit einiger Berechtigung von Ideologie als verkehrter Wahrheit
gesprochen werden kann.
Das
klassische Beispiel, nach marxistischer Auffassung, ist die Religion,
verstanden als Projektion menschlichen Mangels und menschlicher Hoffnungen
in ein himmlisches Nirwana. Auch künstlerische Formen werden oft,
in diesem Sinn, als ideologisch bezeichnet.
Kunst,
lässt sich sagen, kann kritisch-aufklärende und ideologisch-verdeckende
Funktionen besitzen (neben dem Faust wäre hier als klassisches
Beispiel die Neunte Symphonie Beethovens zu nennen), sodass durchaus
mit einiger Berechtigung von Kunst als Ideologie gesprochen werden kann.
Künstlerische Wahrheit ist hier erst aus der verfälschenden
Rezeption zu gewinnen.
Kunst
als Ideologie gilt für alle Formen der Kunst – das Wahrheitsmoment
ist den Werken erst abzuringen, und nur wenige Kunst wird das Potenzial
der Wahrheit besitzen.
Kunst
hat deshalb oft auch den Charakter des Trugs, wenn nicht der Lüge,
ist bewusster Teil der Gegenaufklärung und ideologischen Verdeckung.
Faust ist ein klassisches Beispiel dafür.
5.
Große Kunst jedoch, und dazu zähle ich den Faust, besitzt
das Potenzial der Wahrheit. Dazu gehört, dass sie die Bedingungen
ihrer Existenz in einem internen und einem externen Sinn reflektiert:
intern: bezogen auf ihre formale Verfasstheit, extern: bezogen auf ihr
Verhältnis zur Welt.
In
der neuzeitlichen Kunst finden wir das stets erneut in Werken seit Dante,
Boccaccio, Cervantes, Shakespeare bis hin zu Goethe, Schiller, zu Thomas
Mann, Bert Brecht und Peter Weiss – in Werken, die, in welcher
Form auch immer, ihre eigenen Voraussetzungen thematisieren.
Ja,
wir können dies auf früheste Formen europäischer Literatur,
auf Homer und die griechische Tragödie zurückverfolgen. Es
ist Kunst, die mit den Begriffen eines symbolischen Realismus und der
Aufklärung (im Sinne systematischer, nicht historischer Begriffe)
angemessen beschrieben werden kann.
6.
Zu bewähren hat sich dieser konzeptionelle Ansatz in der konkreten
Interpretation. Diese hat, will sie ihrem dialektischen Begriff gerecht
werden, das Werk als formale Einheit – als dialektische Werkstruktur
- zu ihrem Gegenstand. Jede Interpretation ist an bestimmte Prämissen
gebunden – ich spreche von epistemologischen Prämissen -,
die offenzulegen, nicht zu verschweigen sind. Nur so kann sie dem Vorwurf
entgehen, einem ideologischen Vorurteil zu dienen.
Die
epistemologische Norm der Deutung von Werken der Kunst ist ein ideologiefreies
Bewusstsein, doch gibt es keine Deutung ohne epistemologische Prämissen.
Eine marxistische Deutung hat deshalb auch keinen Grund, ihre Prämissen
zu verschweigen.
Im
Falle des Faust ist es das Anliegen einer dialektischen Konzeption des
Ganzen wie der Hauptfiguren, der Anspruch auf Totalität, "Drama
der Menschengattung" (Lukács) zu sein; die These schließlich
einer naturgeschichtlichen Grundlegung menschlicher Kultur, einer dreigliedrigen
Utopie, in der das Prinzip Liebe neben das Prinzip Hoffnung (im Sinne
Blochs) tritt, und vieles mehr.
Gewonnen
wird diese Einsicht durch die genaue Analyse des Texts: "more philologico"
(Rudolph Sühnel), die die traditionelle Opposition positiver und
negativer Deutungen unterläuft. An die Stelle solcher Oppositionen
tritt die Dialektik als ein Drittes.
Es
ist dies der Anspruch, und die Lesenden werden entscheiden, ob diesem
Anspruch gefolgt wird. Es ist der Anspruch einer marxistischen Philologie,
und für diese gilt – wie für jede andere –, dass
die genaue Textlektüre das erste Kriterium philologischen Erkennens
ist.
Für
dieses gibt es keinen Anspruch auf absolute Wahrheit. Die Philologie
kann irren wie jede Form der Wissenschaft. Es ist Sache der Lesenden,
diesen Anspruch zu überprüfen und gegebenenfalls die Korrektur
des Irrtums vorzunehmen.
Thomas
Metscher lehrte von 1961 bis 1971 deutsche Literatur in Belfast und
anschließend bis zu seiner Emeritierung 1999 Literaturwissenschaft
und Ästhetik an der Universität Bremen. Seitdem widmet er
sich in seinen Büchern hauptsächlich den Forschungsfeldern
Ästhetik und Philosophie.
Goethes
»Faust«: Moderne Widerspruchsfiguration von
Rüdiger Dannemann 10/2024
Thomas
Metscher arbeitet an Goethes »Faust« die epochemachenden
Dualismen der bürgerlichen Gesellschaft heraus
An der
Weimarer Klassik herrscht unter linken Intellektuellen durchaus Desinteresse.
Der Fokus auf Avantgardismen eines Brecht oder der Frankfurter Schule
hat sozusagen Schule gemacht. Hinzu kommen – keineswegs unbegründete
– Aversionen gegenüber der in der ersten »sozialistischen«
Republik auf deutschem Boden gepflegten legimitatorischen Propagierung
des klassisch-humanistischen Erbes. Mit Thomas Metscher, der sich selbst
als Vertreter einer gleichermaßen philologischen wie philosophischen
Literaturkritik, »einer kritisch-dialektischen Philologie«,
versteht, meldet sich nun eine kompetente, differenziert argumentierende
Gegenstimme. Sein voluminöser Band »Faust und die Dialektik«
lädt zur Überprüfung eingespielter Routinen ein.
Dialektik
als Leitfaden
Metschers
Werk ist das Resultat einer 50-jährigen Beschäftigung mit
dem Faust-Stoff. Das Buch baut daher auf einer eindrucksvollen Reihe
früherer Veröffentlichungen auf – etwa in der, wie es
inzwischen scheint, erfolgreich ums Überleben kämpfenden Zeitschrift
»Argument«. In acht Kapiteln, die Metscher Bücher nennt,
beschäftigt er sich mit der Rezeptionsgeschichte des »Faust«,
entfaltet differenziert die »Dialektik der Faust-Dichtung«
und untersucht unter dem Titel »Summa poetica« die vielstimmige
ästhetische Struktur, um abschließend das Werk in den großen
»weltgeschichtlichen« Kampf zwischen Sozialismus und Barbarei
einzuordnen. Was macht »Faust« so interessant, dass der
Stoff Metscher – ähnlich übrigens wie den Verfasser der
Tragödie-Komödie (Goethe sprach 1832 in einem Brief an Alexander
von Humboldt nicht ohne Ironie im Hinblick auf seinen »Faust«
von einem seltsamen Gebräu, offenbarem Rätsel und sehr ernsten
Scherzen) – ein halbes Jahrhundert nicht losgelassen hat?
Zunächst
ist da die ziemlich einzigartige Wirkungsgeschichte des Werks. Metscher
beschreibt eindringlich den Wandel von einer heroisierenden Deutung
der Faust-Figur (des »faustischen Menschen« als eines Menschheitssubjekts
und Grenzüberschreiters) zum Archetyp des inhumanen und frauenfeindlichen
Aggressors. Dafür setzt er sich intensiv mit den Deutungen Heinz
Schlaffers, Rüdiger Scholz’ und Oskar Negts auseinander, wobei
er Letzterem bescheinigt, nach Georg Lukács und Gerhard Scholz
wenig Neues beigetragen zu haben. Metscher hat auch zu Albrecht Schönes
viel gepriesener Faust-Edition durchaus kritische Einwendungen parat,
während er die philologisch-akribische Pionierarbeit Michael Jaegers
zu schätzen weiß.
Anders
als etwa Schlaffer – der Faust als Allegorie und poetische Verwirklichung
einer der modernen Welt allein adäquaten negativen Dialektik versteht
sowie dem Werk (selbst Fausts Todesmonolog) jegliche utopische Dimension
abspricht – macht Metscher die Dialektik zum Leitfaden, zum Schlüssel
seiner Interpretation. Deren wichtigste Elemente sind auf logischer
Ebene das Widerspruchsprinzip und auf ontologischer Ebene die Prozessualität,
die gut hegelianisch über die Negation hinaus zur Aufhebung des
Gegensatzes führt. »Die Grundbestimmung des ästhetischen
Verfahrens Goethes« und seiner ästhetischen Weltaneignung
dürfte, so Metschers These, lauten: »Dialektik als Kunst
des Widerspruchs, der Gegensatz als reale Bewegung des Seins.«
Gegen
undialektische Reduktion
Bei Goethe
gibt es folgerichtig eine große Zahl von Widerspruchsfigurationen:
neben Faust und Mephistopheles etwa Gretchen und Faust, Helena und Faust,
die feudale Welt als Maskenspiel, die hochkomplexe Figuration der klassischen
Walpurgisnacht oder die arkadische Utopie in der Verbindung von antiker
und moderner Welt. Im fünften Akt des zweiten Teils tritt Faust
als Kolonisator und imperialer Bourgeois auf, aber auch Philemon und
Baucis. Und im Werk-Epilog, der Bergschluchtenszene als komödiantischer
Kontrafaktor des Prologs erscheint Gretchen als »Jungfrau, Mutter,
Königin/Göttin«.
Komplexitätsmaximierung
ist die notwendige Folge von Goethes Verfahren, das an den Zuschauer
und den Literaturwissenschaftler hohe Ansprüche stellt. »Im
Ganzen gesehen zeichnet sich ›Faust‹ also gegenüber anderen
Werken seiner Epoche durch eine vielfach gesteigerte Komplexität
aus«, urteilt Metscher. Mit »der bewussten Aufnahme nicht
nur künstlerisch-ästhetischer, auch historisch-kultureller
Widerspruchsstrukturen« liefere Goethe daher eine »Totalität
erfahrener Welt, die den Bedeutungsspielraum überlieferter Literatur,
auch des höchsten Ranges, weit übersteigt«. Auf der
formalen Ebene entspricht dem eine ästhetische Pluralität,
die bewegt-gegensätzliche Synthesis aller »Naturformen der
Poesie« (Goethe) und aller Theaterformen von antiken Dramen über
die französische Komödie, Shakespeare bis zur Mozart-Oper.
Angesichts dieser Vielschichtigkeit rechtfertigt sich der Umfang der
vorliegenden Studien zwanglos.
Metscher wendet sich gegen eine undialektische Reduktion Fausts auf
einen Global Player der hässlichen kapitalistischen Form des Fortschritts.
Metscher
wendet sich gegen eine undialektische Reduktion der Faust-Figur, etwa
auf einen Global Player der hässlichen kapitalistischen Form des
zivilisatorischen Fortschritts. Für ihn ist Faust ein »Amalgam
verschiedener Figuren«, in dem Elemente des Prometheischen, des
Rebellischen, der mittelalterlichen Gelehrsamkeit, produktiver Bildungsgeschichte
wie der modernen problematischen kapitalistischen Rationalität
und auch des Patriarchats stecken. Kurzum: Faust ist zugleich Citoyen
und Bourgeois, Repräsentant der Janusköpfigkeit des Kapitalismus.
Goethes
Frauenfiguren ist es überlassen, das utopische Element der Faust-Figur
zur Entfaltung zu bringen, was frühere meist männliche Interpreten
nicht verstanden haben. Der Gott des Prologs entpuppt sich am Ende als
Theatergott und in der Bergschluchtenszene des Epilogs dominiert das
weibliche Personal. Das »Ist gerettet« am offenen Ende des
Dramas ist für Metscher nicht als Stimme des Herrn zu deuten, sondern
eine weibliche Stimme, die erste Stimme der Bergschluchtenszene. Gretchen,
die Geschundenste aller Dramenfiguren, wird letztlich auch Fausts Retterin,
eines Faust ohne Magie, ohne Teufel. Sie vertritt den neuen Tag einer
zur Wirklichkeit werdenden sozialen Utopie.
Goethes
Werk ist daher, was Peter Hacks als Erster erkannt hat, recht verstanden
keine Theodizee, sondern eine Anthropodizee, »ein Versprechen
auf die Zukunft hin«, in der ein neues Sein möglich ist,
das den Prinzipien der Macht und Gewalt eine Absage erteilt. Goethes
Hinwendung zur Immanenz des Sinnes steht in der Tradition Spinozas,
der mit seiner Formel »natura sive substantia sive deus«
(Natur oder Substanz oder Gott) Gott aus dem transzendenten Himmel geholt
hat, aber auch des utopischen Sozialismus Saint-Simons sowie des Liebeskonzepts
von Mozarts Musiktheater.
Die
große Konfrontation vorgebildet
Metscher
betont leitmotivisch: »Goethe war, der Forschung entgegen, seinen
radikalen Ursprüngen keineswegs untreu.« So regt Metschers
Buch an, die Radikalität und Modernität des Goetheschen »Faust«
neu zu entdecken. Dazu bringt er das Werk im Schlusskapitel mit der
Tradition großer utopischer Literatur in Verbindung, namentlich
mit Thomas Manns Faustus-Roman und Peter Weiss’ »Ästhetik
des Widerstands«. Metscher legt überzeugend dar, dass Goethes
letztes großes Werk die Konfrontation von Humanität und Barbarei,
Realismus und Nihilismus, Marx und Nietzsche vorgebildet hat, »die
das kommende Jahrhundert bestimmen wird«.
Im Juli
dieses Jahres ist der Philosoph, Literaturwissenschaftler und streitbare
plurale Marxist Thomas Metscher 90 Jahre alt geworden. Sein umfangreiches
Werk erscheint in den letzten Jahren sukzessive im Kasseler Mangroven
Verlag, es ist damit so etwas wie eine kleine Werkausgabe entstanden.
Mit seinen Faust-Studien in der Nachfolge von Lukács und Hans
Heinz Holz hat er nach langen Jahren der Aneignung und Durchdringung
des Stoffes ein Respekt heischendes Opus geschaffen, das Resonanz verdient